Narrative Intelligenz, narrative Dummheit
Die Anwendung von Storytelling und anderen narrativen Methoden bringt Unternehmen sehr viele Vorteile – davon bin ich zutiefst überzeugt. Ob im Marketing starke Geschichten Kunden von den Vorteilen eines Produkts überzeugen, ob Führungskräfte durch Sinnstiftung via Geschichten die Mitarbeiter motivieren, Veränderungsprojekte auf den erzählten Erlebnissen der Mitarbeiter aufbauen oder wertvolles Expertenwissen durch Storytelling verfügbar gemacht wird – immer ist etwas am Werk, das man als „narrative Intelligenz“ bezeichnen könnte. Denn offenbar ist es eine der grundlegenden Fähigkeiten der Menschen, mit Geschichten umgehen zu können.
These von Historiker Yuval Noah Harari
Der israelische Historiker Yuval Noah Harari vertritt in seinem höchst lesenswerten Buch „Eine kleine Geschichte der Menschheit“ (München: DVA 2013) die These, dass diese Fähigkeit einer der ausschlaggebenden Parameter für den zivilisatorischen Erfolg des Homo sapiens war. Durch Geschichten kann ein Mensch von den Lernerfahrungen anderer profitieren: Wenn der Jäger abends am Lagerfeuer erzählt, wann und wo er eine Büffelherde gesehen hat, können die Jäger des nächsten Tages auf diesem Wissen aufbauen. Und wenn ein prähistorischer Erfinder von seinen bisher erfolglosen Versuchen, rollende Baumstämme zum Transport von Lasten zu verwenden, muss sein Nachfolger nicht all die gescheiterten Versuche wiederholen, sondern kann auf dem erzählten Erfahrungswissen aufbauen – und vielleicht so das Rad erfinden.
Narrative Intelligenz
Narrative Intelligenz bedeutet also einerseits, den Geschichten anderer Menschen Interesse entgegenzubringen, ihnen zuzuhören, das in ihren Geschichten vermittelte Wissen erkennen und für sich selbst nutzbar machen zu können. Zweitens bedeutet aber narrative Intelligenz auch, Geschichten als Möglichkeiten zu betrachten, zu denen es auch Alternativen geben kann. Eine Geschichte ist so und so gelaufen – sie hätte auch anders laufen können, und beim nächsten Mal läuft sie auch anders.
Lernen aus Geschichten
Das bedeutet Lernen aus Geschichten. Wenn der Nachfolger des prähistorischen Erfinders die Geschichten seines Vorgängers für nicht veränderbare Faktizitäten genommen hätte und nicht an die Möglichkeit geglaubt hätte, dass die Geschichte mit dem Transport durch Rollen auch anders verlaufen könnte, hätte er niemals das Rad erfunden. Feinde der narrativen Intelligenz sind Sprüche wie „Das war schon immer so!“, „Das geht nur so, nicht anders!“, „Alle Experten sagen, so ist es richtig!“, etc. Narrative Intelligenz sucht immer nach der neuen Geschichte und weiß, dass es zu jeder Geschichte Alternativen gibt oder geben könnte.
Gegenmodell: narrative Dummheit
Aber natürlich gibt es auch das Gegenmodell zur narrativen Intelligenz: die narrative Dummheit. Deuteten die oben zitierten Sprüche schon auf eine Abwesenheit narrativer Intelligenz hin, so könnte man als Kern der narrativen Dummheit ein Verhalten bezeichnen, das einzelne Geschichten verabsolutiert als Beschreibung der Welt. Wenn etwa jemand eine Geschichte hört – sei sie nun wahr oder gelogen –, in der ein Flüchtling eine Frau vergewaltigt hat, und er sie dann verallgemeinert zu dem Glaubenssatz „Alle Flüchtlinge sind gefährlich“, ist das ein Kennzeichen von narrativer Dummheit (und vielleicht von Dummheit überhaupt). Narrative Dummheit sieht das Geschichten-Erzählen nicht als Möglichkeitsraum, in dem viele Varianten existieren könnten, sondern setzt eine Geschichte, die zur eigenen Ideologie passt, als Beweis: Ein Einzelfall wird zur „Wahrheit“ über einen Teil der Welt. Eine zweite Ausprägung der narrativen Dummheit ist es, immer die einfachste Geschichte für die beste zu halten. Wir haben ein Problem mit illegaler Immigration aus Mexiko? Dann bauen wir doch einfach eine riesige Mauer an der Grenze! Populisten wie Trump (und AFD und Pegida bei uns) wählen immer die (scheinbar) einfachste Geschichte und versuchen an die narrative Dummheit ihrer Anhänger anzudocken. Überflüssig zu sagen, dass diese einfachen Geschichten in der Umsetzung dann meist nicht im Sinne des Erfinders funktionieren.
Narrative Dummheit im Unternehmen
In Unternehmen kann sich narrative Dummheit auf ganz ähnliche Weise zeigen: Im Festhalten an „So-geht-es-Geschichten“, anstatt „out of the box“ Raum für neue Geschichten zu lassen. Oder im Verhalten von Führungskräften, die keinerlei Interesse an den Geschichten und Erfahrungen ihrer Mitarbeiter haben, sondern nur darauf bedacht sind, ihre eigenen Stories abzusetzen. Oder aber in einer Unternehmenskultur, in der jede Gruppe (Mitarbeiter, Führungskräfte, Techniker, Betriebswirte, etc.) Geschichten über die jeweils anderen verabsolutieren und daher genau „wissen“, wie „die so sind“. Ich denke, narrative Dummheit ist eines der wichtigsten Innovations- und Entwicklungshemmnisse in Unternehmen. Ein erster Schritt zur Entwicklung narrativer Intelligenz kann es sein, einfach mal Raum für das Zuhören zu schaffen, den Geschichten der Mitarbeiter und der Führungskräfte Platz im Unternehmen zu geben und aus ihnen zu lernen.
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Prof. Dr. Michael Müller
Farmerland 8a
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