Verschwörungstheorien: Wenn Geschichten durchdrehen
von Michael Müller auf LinkedIn
Das erste Wochenende seit dem Shutdown mit größeren „Lockerungen“ am 9./10. Mai wurde auch von Demonstranten unterschiedlicher politischer und ideologischer Couleur genutzt. Darunter waren auch, neben Menschen, die ihrer Besorgnis wegen der Einschränkung der Grundrechte Ausdruck verleihen wollten, ein stattliche Menge Verschwörungstheoretiker, wie die Medien berichteten: etwa solche, die behaupten, die Corona-Pandemie gehe auf ein Komplott eines „fanatischen Polit-, Medien- und Konzernkartells“, wie die Süddeutsche Zeitung ein einschlägiges Blatt zitiert, zurück, das uns gefügig machen wolle. Ähnliches wird auch von verschwörungstheoretischen Impfgegnern erzählt, die befürchten, eine weitere Pflichtimpfung sei ein Instrument, um dem Volk chemisch den Willen zu nehmen. Und so weiter. Wenigstens sind die Echsenwesen in diesem Kontext noch nicht aufgetaucht. Oder doch?
Aus der Perspektive der Narrationsforschung sind Verschwörungstheorien höchst interessant, und natürlich auch die Tatsache, warum sie gerade jetzt aus ihren verborgenen nerdigen Winkeln, die ihr gewöhnliches Habitat sind, an die Öffentlichkeit drängen. Ich denke, es hat etwas mit einem Sinndefizit zu tun.
Narrative Strukturen – also der Dreiklang aus Anfangszustand, Transformation und Endzustand – sind ja, wir Ergebnisse der narrativen Psychologie und der Gehirnforschung nahelegen, die Form, wie wir Menschen im buchstäblichen Sinn „Sinn machen“. Und das sowohl als Individuen als auch als Gemeinschaften: Wir wollen wissen, wo wir herkommen, wie wir uns entwickelt haben, wie die Dinge um uns entstanden sind, und wie es von jetzt an weitergehen könnte. Sinn-Narrative haben immer eine Vergangenheitsdimension („wie wir und unsere Umwelt geworden sind, was wir heute sind“) und eine Zukunftsdimension („wie wir wünschen/planen/glauben, dass es mit uns oder unserer Gemeinschaft weiter geht“). Diese Geschichten oder Narrative sind natürlich immer Konstruktionen: Wir entwickeln sie so, dass sie für uns „Sinn machen“. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari bezeichnet es ja geradezu als eines der Auszeichnungsmerkmale des Homo sapiens, dass er fiktionale Narrative entwickeln kann, mit denen er unter anderem große Gemeinschaften – von den frühen Stadtstaaten in Mesopotamien bis zu heutigen Staaten – zusammenhalten und organisieren kann (Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: Pantheon 2015). Religionen und andere mythologische Systeme sind solche narrativen Konstruktionen, aber auch nationale oder gruppenspezifische Geschichten-Welten („warum wir ganz besonders sind“).
Im Rahmen unserer individuellen und überindividuellen Sinn-Stiftung haben wir ein tiefes Bedürfnis, alles was uns begegnet, erklärbar zu machen, indem wir ein Narrativ dazu finden. Wir sehen auf der Straße einen Fremden mit einer Wunde – sofort rattern in unserem Kopf narrative Partikel los, die zur Erklärungsgeschichte für diese Wunde werden können: Ist dieser Fremde überfallen worden? Hatte er einen Autounfall? Ist er im Suff hingefallen? Und so weiter. Wir wollen immer wissen, wie etwas angefangen hat, woher es kommt, wie es passiert ist, und nach Möglichkeit auch, wie die Geschichte weiter gehen wird.
Die Corona-Krise verweigert nun weitgehend, unser Sinn-Bedürfnis mit ganz klaren und eindeutigen Sinn-Narrativen zu befriedigen: Es gibt zwar mehr oder weniger plausible Spekulationen, wie die Pandemie entstanden ist, aber sicher ist nichts – die USA und China streiten sich ja gerade heftig um das „wahre“ Narrativ. Die Pandemie ist vielleicht einfach eine Naturkatastrophe, die über uns gekommen ist. Möglicherweise zufällig. So etwas mögen Menschen überhaupt nicht: Schon das Erdbeben von Lissabon 1755, bei dem bis zu 100 000 Menschen starben, führte zu einer Krise des vorherrschenden Sinn-Narrativs, nämlich des christlichen: Wie kann ein Gott, wenn er allmächtig, weise und gut ist, so etwas zulassen?
Noch schwerer als die Verweigerung des Vergangenheits-Narrativs wiegt in der Corona-Krise, wie ich meine, die Verweigerung klarer Zukunfts-Narrative. Natürlich wissen wir alle, dass niemand die Zukunft kennen kann und dass Zukunfts-Narrative immer Fiktionen sind. Aber dennoch brauchen wir solche Geschichten: Wir wollen zumindest potenzielle Zukünfte uns halbwegs realistisch ausdenken und planen können. Und dem verweigert sich „Corona“ nahezu vollständig: Wir können nur „auf Sicht fahren“, wir wissen nicht, ob eine zweite Welle kommt, wann es ein Medikament oder einen Impfstoff geben wird, und so weiter. Die Zukunft ist ein Nebelfeld.
Und jetzt kommen die Verschwörungstheorien ins Bild. Sie liefern Erklärungen, wo keine sind oder die existierenden zu wenig eindeutig und damit für viele Menschen unbefriedigend sind. Sie liefern Vergangenheitsnarrative: Wie konnte so etwas wie die Französische Revolution geschehen? Klar, es war eine Verschwörung der Illuminaten und Freimaurer! Und all die Migrantenströme seit 2015? Da steckt natürlich eine Verschwörung zur islamischen Unterwanderung und „Umvolkung“ dahinter. Und woher kommt die Corona-Pandemie? Ja, da steckt ein chinesisches Komplott zur Übernahme der Weltherrschaft dahinter. Oder ein kapitalistisch-elitäres Machtkartell, das uns durch eine Hygiene-Diktatur unterjochen will.
Verschwörungstheorien liefern Vergangenheits-Narrative, bei denen zwar schwammig definierte, aber doch potenziell identifizierbare Schuldige ausgemacht werden (Machtkartelle, Geheimbünde, etc.; vgl. auch die sehr gute Analyse von Verschwörungstheorien in Michael Butters Buch „Nichts ist, wie es scheint“). Und wenn es einen klaren Schuldigen gibt, existiert auch zumindest implizit ein Zukunfts-Narrativ: Der Sinn der Zukunft besteht darin, diese Schuldigen zu entlarven und zu bekämpfen.
So groß scheint unser Bedürfnis nach Sinn und damit klaren Sinn-Narrativen zu sein, dass wir eher an den größten Blödsinn glauben wollen, als es mit dem Nicht-Wissen und der nebulösen Zukunft auszuhalten – bis hin zur Existenz echsenartiger Aliens, die unsere Welt beherrschen.
Ich will nicht verhehlen, dass es auch für mich als einen Angehörigen unserer westlichen, sehr ziel- und zukunftsorientierten Gesellschaft nicht leicht ist, in diesem nebulösen, planungsarmen Zustand „auf Sicht“ in die Zukunft zu fahren. Aber vielleicht ist es ein Merkmal einer narrativen Intelligenz, die wir entwickeln müssen, unser übergroßes Bedürfnis nach eindeutigen Sinn-Narrativen zu reflektieren und nicht auf jeden am Markt der Verschwörungstheorien angebotenen Blödsinn – der häufig, wie Michael Butter auch schön darlegt, mit populistischen Ideologemen eine Allianz eingeht – hereinzufallen. Und zu lernen, Ungewissheiten auszuhalten und sich dennoch nicht davon abhalten zu lassen, größere Bögen von Zukunftsdramaturgien zu entwickeln, die uns ein Bild davon zu malen erlauben, wie wir als Gesellschaft eigentlich leben wollen. Auch und gerade dann, wenn solche positiven Zukunftsnarrative „randunscharf“ bleiben, können sie uns Sinn geben, ohne dass wir auf verschwörungstheoretische Sündenbock-Geschichten zurückgreifen müssen.
Foto: Bild von Michael Knoll auf Pixabay