Erzähl mir die Gesellschaft!
„Vielleicht, wenn man die eigene Geschichte erzählt, findet sie eine Fortsetzung.”
Arno Geiger: Unter der Drachenwand
Stuttgart, 10.12.2019: Langsam füllt sich der Saal in der Stiftung Geißstrasse. Hier findet erstmalig das Experiment „ErzählRaum“ statt. Der Anlaß? Zunehmend wirft man sich in unserer Gesellschaft Meinungen und (angebliche) Fakten an den Kopf – ohne sich richtig zuzuhören, ohne zu verstehen. Heute Abend soll das anders sein: Es geht um wertfreies Zuhören. Kein Diskutieren, keine Meinungen. Nur konkrete Erfahrungen, die mit Stadt, Öffentlichkeit und Gesellschaft zu tun haben. Denn um die Gesellschaft in ihrem Facettenreichtum zu verstehen und weiterzuentwickeln, braucht es die Fähigkeit zuzuhören. Reden braucht Schweigen – zum Antworten gehört das Fragen. Diese Fähigkeiten sind komplementär und sollten sich in einem ausgewogenen Zustand befinden. In unserer Gesellschaft gibt es eine klare Dominanz des Redens. Schweigen scheint oft nur wie eine Atempause, in der der nächste Redebeitrag vorbereitet wird. Wenn wir hingegen gute Zuhörer werden, ändert sich unsere Haltung und unser Weltbild. Wir werden davon überrascht, wie viele spannende Geschichten wir plötzlich zu hören bekommen.
Einleitende Worte der Initiatoren
Die Wortakrobaten Toba & Pheel leiten den Abend mit einem musikalischen Intro zum Thema „Erzählen“ ein. Anschließend ergreifen die Initiatoren des Experiments „ErzählRaum“ das Wort. Dr. Michael Kienzle, von der Stiftung Geißstrasse appelliert: „Wir streiten uns über Fakten und wir haben Meinungen und Gegenmeinungen. Heute Abend suchen wir nach dem Einigenden, wir wollen daran arbeiten, dass es besser wird“. Daran knüpft auch Prof. Rainer Nübel, Professor an der HfWU Nürtingen-Geislingen und Gründer des Erzählprojekts „Gutes Morgen zusammen. Erzähl mir Deine Zukunft“, an. Das Projekt hat er bisher mit Schülern und Studierenden durchgeführt, heute Abend sind alle Generationen dazu eingeladen, von ihren Ängsten und Hoffnungen zu erzählen. Er betont: „Wir alle wissen nicht, was dabei herauskommt, aber heute Abend wissen wir, welche Themen relevant sind. Und diese wollen wir dann raustragen in die gesamte Stadtregion.“ Prof. Dr. Müller vom Institut für angewandte Narrationsforschung an der HdM Stuttgart begründet das Experiment mit der „Hoffnung, dass wir alle mehr voneinander wissen, wie wir leben und was für Hoffnungen wir haben in der Stadt und in der Gesellschaft“.
Dann werden die Teilnehmenden aktiv.
Vierundzwanzig völlig verschiedene Menschen verteilen sich in Gruppen von jeweils acht Personen auf die Tische „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“.
Am Tisch „Vergangenheit“ wird nach einem Erlebnis aus dem eigenen Leben gefragt, das Mut für die Zukunft macht oder zweifeln lässt, ob wir auf dem richtigen Weg sind.
Ein Teilnehmer erzählt von seinem Besuch bei einer Organisation in Washington, bei welcher viele Menschen erfolgreiche Karrieren unterbrochen haben, um sich gemeinsam für Obdachlose zu engagieren. Er ist beeindruckt über die Wirkung dieser kleinen Gruppe. Eine andere erzählt von einem Erlebnis im Schwimmbad, bei dem sie eine deutsche Schwimmlehrerin im Badeanzug beobachtet hat, die geflüchteten Männern Unterricht gegeben hat. Sie war von der Harmonie der Gruppe und der funktionierenden Kommunikation mit Händen und Füßen überrascht. Das Erlebnis hat ein Gefühl der Zuversicht in ihr geweckt.
Beim „Gegenwart“-Tisch geht es um ein erst kürzlich stattgefundenes Erlebnis, das den Erzählenden das Gefühl gibt, dass sich gerade etwas verändert – im Positiven wie im Negativen.
Eine Erzählerin spricht über eine geplante Reise nach Chile und ihre negative Wahrnehmung der Medienberichterstattung in diesem Zusammenhang. Schlagzeilen wie „Chile versinkt im Chaos“ und „Kriegszustand“ haben eine Woche vor Abflug die Nachrichten geprägt. Sie ist trotzdem geflogen und war von der Diskrepanz zwischen Realität und Berichterstattung erschüttert. Der Mut der Demonstranten war für sie ein eindrückliches Erlebnis: „Man hat gesehen, dass es ganz normale Menschen sind, die für eine faire und ausgeglichene Gesellschaft kämpfen. Es verändert sich was“. Für einen anderen Teilnehmer drängt sich die Frage auf, wie wir es schaffen, uns in der Gesellschaft so mobil zu halten, dass es gut für das Klima und gleichzeitig auch integrierbar in unseren Alltag ist. Ausgangspunkt der Frage ist ein Erlebnis, bei dem er aufgrund zwei aufeinanderfolgender Zugausfälle einen von ihm angebotenen Zeichenkurs spontan absagen musste.
Am Tisch „Zukunft“ soll ein (fiktives) Erlebnis erzählt werden, das die Teilnehmenden in naher oder ferner Zukunft gerne erleben würden.
Einer sieht sich als Schnittstelle der Kulturen. Eine andere möchte eine Rolle einnehmen, die dafür sorgt, dass wertfrei zugehört wird, Gedanken ganz ausgeführt werden können. Wieder eine andere hat das Ziel, Innenraum und Gesundheit mehr zu verbinden: Grüne Wände, Tische aus Holz, gesunde Materialien. Schließlich möchte sich ein Teilnehmer für Bildung über Bilder einsetzen. Mit einfachen, kreativen Techniken spannende Denkprozesse in Gang setzen.
Nachdem alle Teilnehmer an den drei Tischen rotiert sind, bleibt nun die Frage:
Was hat das Experiment bewegt? Welches Resümee lässt sich ziehen?
Geschichtenhören gibt uns die Möglichkeit, uns in andere Menschen hineinzuversetzen, sie besser zu verstehen und Empathie für ihre Erfahrungen zu entwickeln. Die Pluralität der individuellen Geschichten und Erfahrungen macht die tatsächliche Vielfalt der Gesellschaft sichtbar. So sind die verschiedenen Erzählungen am Tisch ein Spiegel der Gesellschaft. Welche Themen bewegen die Menschen über alle Generationen und Schichten hinweg? Wo werden andere Wahrnehmungen sichtbar – wo beschäftigen uns die gleichen Themen? In andere Gedankenwelten zu blicken erweitert den eigenen Horizont. Dabei wird deutlich: Uns bewegen ähnliche Themen! Wir finden die eigenen Gedanken und Anliegen in anderen Gruppen wider. Das schafft Verbindungen und lässt uns voneinander lernen.
Persönliche Geschichten eröffnen eine persönliche Verbindung zwischen verschiedenen Menschen. Wir reagieren mit Empathie, weil die Geschichtenerzähler ihre Emotionen offen teilen. Der soziale Status spielt hier keine Rolle. In solch diversen und bunt gemischten Gruppen finden wir uns sonst selten wider. Geschichten schaffen Communities und Beziehungen aller Art. Dadurch lernen wir, Vorurteile abzubauen und Erzählungen von Menschen anzuhören, die wir in anderen Umgebungen sofort in Schubladen gesteckt hätten.
Wichtig hierfür ist ein wertfreies Zuhören. Es wird nicht diskutiert, nicht kommentiert. Das wird besonders dann schwierig, wenn Erzählungen anderer unser eigenes Weltbild angreifen oder dem entgegenstehen. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch nicht wappnen für einen Gegenangriff, wir müssen uns nicht verteidigen.
Wenn es in diesen Geschichten um Gesellschaftsfragen geht, werden unterschiedliche Erkenntnisse generiert – viel kraftvoller als wenn dieselben Fragen abstrakt dargestellt werden. Wir sehen die vakanten Themen unserer Gesellschaft nicht mehr abstrakt, sondern betrachten sie als „unsere Themen“ – was sie für uns und in unserem Leben bedeuten.
Geschichten erlauben uns auch einen Blick in Vergangenheit Gegenwart und Zukunft. Ein Wechseln zwischen den drei Tischen macht es möglich, den persönlichen Lebenslauf entlangzugehen. Wurde beispielsweise in der Vergangenheit über den Umgang mit sich erschöpfenden Ressourcen gesprochen, müssen wir uns heute die noch viel drängendere Frage stellen, wie wir eine lebenswerte Zukunft schaffen und welche Rolle wir dabei spielen wollen.
Räume für ein offenes und analoges Erzählen sind nur noch selten vorhanden. Das Experiment zeigt, wie wichtig es ist, diese wiederzubeleben. Geschichten liefern zwar nicht alle Antworten auf der Suche nach persönlicher und gesellschaftlicher Transformation, aber was durch ihre Erzählung gewonnen wird, ist wichtig für das Verständnis, wie und warum Veränderungen stattfinden. Sie laden uns ein, unsere eigene Bedeutung zu entwickeln, und das ist Teil ihrer Macht.
Das betonen auch Toba & Pheel in ihrer abschließenden musikalischen Zusammenfassung: „Da merkt man, wie es in jeder Stadt so ist. Man sieht nur die Filterblase. Es geht an für sich wieder um die Zuversicht. Darum, dass es vielleicht in den nächsten Jahren vielleicht auch nochmal was zu jubeln gibt und auch wenn es vielleicht gerade düster ist, sind wir das Licht, das sozusagen zuhört und miteinander spricht. Sodass wir merken, dass die Möglichkeiten gut und gar nicht fies sind.“