Die fünf narrativen Grundlagen für wirklich agile Unternehmen
Artikel von Michael Müller auf LinkedIn
Agilen Organisationen gehört die Zukunft – davon bin ich nach mehr als 20 Jahren Beratungstätigkeit in Unternehmen ganz unterschiedlicher Größe und Branche zutiefst überzeugt. Für mich gehören zu diesem Feld auch ganz unterschiedliche Strömungen, wie sie etwa unter Bezeichnungen wie „New Work“ oder „Systemic Turn“ in der Organisationsentwicklung gehandelt werden. Entscheidend ist für mich dabei einerseits, dass den einzelnen Mitarbeitenden und den Teams die Autonomie für ihre Entscheidungen und ihr Handeln zurückgegeben wird, andererseits dass offene Prozesse und schnelles Reagieren auf Veränderungen wichtiger genommen werden als das Festhalten an Plänen und starren Strukturen und Hierarchien. Als Berater war und bin ich immer wieder mit den Verheerungen konfrontiert, die das Bild des Unternehmens als Maschine oder tickendes Uhrwerk, das immer noch in vielen Köpfen präsent ist, verursacht: Mangelnde Motivation der Mitarbeiter (jedes Jahr veröffentlich die Gallup-Studie dazu alarmierende Zahlen), fehlende Effizienz der Prozesse, Anwachsen der Bürokratie und des Berichts- und Evaluationswahnsinns und die Unfähigkeit vieler Unternehmen, auf Veränderung der Gesellschaft und des Marktes zu reagieren, sind die Auswirkungen. Meist wird dann versucht, darauf durch noch mehr „Management“, noch mehr Regeln, Definitionen und Evaluationen zu reagieren, was die Organisation allerdings immer starrer werden lässt.
Wirkliche und oberflächliche Agilität
Die Philosophie der Agilität verspricht einen Ausweg aus diesem Dilemma: wenig Strukturen und Hierarchien, selbstständiges Handeln der Mitarbeitenden, schnelle und spontane Reaktion auf Veränderungen. Also genau das, was Organisationen in einer sich ständig verändernden Welt brauchen.
Aber leider beobachte ich häufig in Unternehmen, die sich auf den Weg zu mehr Agilität gemacht oder mit agilen Units in der Organisation experimentieren, dass Agilität häufig im alten Geist des „Maschinenunternehmens“ gedacht wird: man führt eine Methode wie „Scrum“ ein (eine sehr gute Methode übrigens), und denkt, wenn man alle in ihr vorgesehenen Prozesse wie im Lehrbuch durchführt, sei man schon agil. Nach einiger Zeit stellt man dann allerdings fest, dass man nur eine Prozessdefinition durch eine andere ersetzt oder gar die Prozesse und Strukturen verdoppelt hat, die Arbeit der Einzelnen also eher erschwert und verkompliziert hat – die Motivation lässt dann schnell nach, wie man sich denken kann.
Eine wirklich agile Organisation kann man nicht allein durch die Einführung einer neuen Projektmanagement-Methode werden, sondern die Organisation muss eine bestimmte Haltung entwickeln und sich mit den verborgenen Bereichen der eigenen Kultur und mit den Diskursen der Gesellschaft und des Marktes auseinandersetzen. Das wiederum bedeutet, die Geschichten zu kennen, die im Unternehmen kursieren, und mit ihnen die verborgenen Regeln, die keiner kennt, die aber äußerst wirkmächtig sind. Und es bedeutet, die Geschichten zu kennen, die andere (Kunden, Partner, Multiplikatoren etc.) über das Unternehmen und seine Produkte erzählen. Nur wenn die Organisation ein Ohr für diese Geschichten hat, mit ihnen umgehen kann, und so auf alle internen und externen Veränderungen schnell und spontan reagieren kann, kann sie wirklich agil sein.
Narrative Grundlagen für agile Organisationen:
Grundlage 1: Das Unternehmen muss die verborgene Seite der eigenen Kultur kennen lernen
Schon seit Edgar Scheins Untersuchungen in den 90er Jahren weiß man, dass jede Organisation nur einen Teil ihrer eigenen Kultur kennt; wie bei einem Eisberg ist der verborgene Teil meist größer als der bekannte. Dieser verborgene Teil hat aber sehr große Auswirkungen auf das Verhalten der Mitarbeitenden und die Prozesse: Verborgene Regeln, prägende Erfahrungen, unbewusste Glaubenssätze und Haltungen bestimmen nicht nur Motivation und Denkmuster, sondern auch das Handeln und dessen Effizienz. Kennenlernen – und damit verändern – kann man diese verborgene Seite nicht durch Befragungen (weil eben keiner sie kennt), sondern nur durch Storylistening: Den Geschichten Raum geben, ihnen zuhören und aus den Geschichten Erkenntnisse über die Kultur gewinnen. Mit einem so entstehenden narrativen Selbst-Bewusstsein über die eigene Kultur ist die Organisation in Resonanz (der Begriff stammt von dem Soziologen Hartmut Rosa) mit den eigenen Mitarbeitenden und kann so ohne starre Prozesse und Regulierungen agil und spontan handeln.
Grundlage 2: Das Unternehmen muss die Geschichten kennen, die andere (Kunden, Partner, Multiplikatoren) erzählen
In ähnlicher Weise ist es für wirklich agile Unternehmen wichtig, sowohl die Geschichten zu kennen, die Kunden, Partner und die Öffentlichkeit über das Unternehmen selbst und seine Produkte erzählen, als auch diejenigen Geschichten, die Veränderungen in Gesellschaft und Märkten anzeigen. Viele Unternehmen meinen zwar, diese Geschichten zu kennen, in Wirklichkeit sind ihnen jedoch nur die Meinungen, die zum Beispiel Kunden bei einer Befragung äußern, bekannt. In Beratungsprojekten habe ich jedoch immer wieder erlebt, dass die Geschichten der Kunden ganz andere sind, als sich die Verantwortlichen im Unternehmen gedacht hatten. Nur wenn man diese Geschichten wirklich kennt, kann die Organisation in Resonanz zu ihrer Umwelt sein und spontan und agil auf Veränderungen in Bedürfnissen, Mentalitäten und Märkten reagieren.
Grundlage 3: Das Unternehmen muss Raum schaffen für den ständigen Fluss der Geschichten
Die Geschichten der Innenwelt (der Mitarbeitenden) und der Umwelt (Kunden, Partner, Öffentlichkeit) zu sammeln sollte keine einmalige Aktion bleiben, denn Geschichten und mit ihnen Mentalitäten, Identitäten, Werte und Sinnkonstruktionen sind in einem ständigen Fluss der Veränderung. Ein wirklich agiles Unternehmen, will es in Resonanz bleiben, muss also Räume schaffen, in denen Geschichten ausgetauscht werden und das Handeln und die Prozesse immer wieder angepasst werden können. Ob das in regelmäßig stattfindenden Erzählworkshops geschieht, in Wellen von narrativen Interviews oder in Erzählrunden am Anfang und Ende jedes Sprints in einem Scrum-Prozess – es muss jedenfalls Zeit da sein, um Geschichten zu erzählen, und vor allem: um Geschichten zu hören und damit Veränderungen in internen und externen Mentalitäten mitzubekommen. Eigentlich braucht jedes agile Unternehmen einen „Chief Storylistening Officer“.
Grundlage 4: Die Mitarbeitenden beteiligen sich an der Ko-Kreation einer sinnstiftenden Zukunftserzählung
Bilden einerseits die Geschichten der Mitarbeitenden und der Umwelt das Jetzt und seine Geschichte („wie wir wurden was wir heute sind“) ab, braucht andererseits jedoch auch die Zukunft eine Erzählung. Jens Beckert vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung hat herausgefunden, dass der Wert eines Unternehmens fundamental davon abhängt, ob es eine glaubwürdige Zukunftsgeschichte erzählen kann: Wo wollen wir hin, was werden wir tun? Wie der Wert eines Unternehmens über Nacht vernichtet werden kann, wenn es keine glaubwürdige Zukunftsgeschichte mehr vorweisen kann, hat Nokia nach der Einführung des iPhones eindrucksvoll vorgeführt. Die Zukunftsgeschichte ist narrative Strategie und Vision in einem. Aber auch sie darf nicht ein für alle Mal entwickelt und niedergeschrieben werden, sondern muss sich immer wieder an Veränderungen anpassen. Deshalb wird in einem wirklich agilen Unternehmen die Zukunftsgeschichte ko-kreativ von und mit den Mitarbeitenden immer wieder weiter entwickelt und verändert.
Grundlage 5: Die Organisation begreift Werte, Identität und „Purpose“ als einen sich ständig verändernden Fluss der Selbst- und Fremderzählungen.
Die fünfte Voraussetzung für wirklich agile Unternehmen versteht sich nach dem Gesagten fast schon von selbst: Auch Werte, Identitätsmerkmale oder Sinnzuschreibungen („Purposes“) sind keine ein für alle Male definierte Größen, sondern Geschichten, die sich im Fluss des Erzählens immer wieder verändern, immer wieder neu Resonanz zur Innen- und Außenwelt der Organisation aufbauen müssen. Purpose, Werte oder Identität sind also keine „Projekte“, die man abhaken kann, sondern narrative Aufgaben, die ein Unternehmen, das wirklich agil sein will, ständig begleiten werden.